Das Pfingst-Orakel.

Humoreske von Teo von Torn.
in: „Das Blatt der Hausfrau” 1902, Heft 35, Seite 852 (ca. Mai 1902)


„Kommen Sie mal her, Wrbala!”

Der Bursche des Leutnants von Höxter legte den Haufen Sachen, mit dem er seine langen, in ungeheuerliche Pranken auslaufenden Arme bepackt hatte, auf einen Stuhl, zog in der Geschwindigkeit noch einmal mit der Nase auf und trat heran.

Die helle Frühlingssonne lachte in voller Pracht durch die weitgeöffneten Fensterflügel ins Zimmer, zauberte blendende Punkte auf die geschliffenen Briefbeschwerer und Moraständer, auf den als Papiermesser dienenden Miniaturdegen und die vielen anderen netten und blanken Gegenstände, mit denen der Schreibtisch des jungen Offiziers schier überladen war.

Ralf von Höxter schob den Sessel zurück und faßte seinen Burschen mit einem ziemlich ernsten und doch auch wieder belustigten Ausdruck scharf ins Auge.

„Sagen Sie mal, was ist das jetzt neuerdings mit Ihnen —”

Der lange Kaschube war auf solche allgemeine, unsubstanziierte Fragen augenscheinlich nicht eingerichtet. Andererseits aber besaß er eine ausreichende militärische Bildung, um zu wissen, daß der Soldat auf jede Frage eines Vorgesetzten eine bündige und befriedigende Antwort zu geben hat. Deshalb zog er die Schultern und die Augenbrauen ein wenig empor — wie immer, wenn er in der peinlichen Lage war, scharf nachzudenken — und gab die ganze Luft seines Brustkastens ab: das Ausatmen eines Menschen, der es greulich schwer hat auf der Welt.

„Weiß ich nich, Herr Leitnant!”

„Hm — und weshalb zwinkern Sie jetzt wieder so mit den Augen, als wenn Sie Ihre Dummheit beweinen wollten?”

„Die Sunn' kribbelt mir in Nase —”

„Also dann stellen Sie sich mal aus der Sonne und geben Sie acht, was ich Ihnen zu sagen habe. Durch einen unerforschlichen Ratschluß sind Sie mir als Bursche zugeteilt. Dagegen war zunächst nichts zu machen — und ich habe mich schließlich in den vier Monaten, in denen Sie mir am Frack baumeln, daran gewöhnt, daß Sie anstatt auf dem Tablett alles aus der nackten la main reichen und von meinen Aufträgen die eine Hälfte vergessen, die andere nicht richtig machen. Woran ich mich aber nicht gewöhnen werde, mein Sohn, das ist die Haltung, die Sie seit einigen Wochen beobachten. Sie dösen herum wie eine betrunkene Gans. Wenn Sie 'was anfassen, dann geschieht das, als wenn Sie für ewig davon Abschied nehmen wollten. Das listige Grinsen, hinter dem Sie Ihre Beschränktheit sonst sehr glücklich zu verbergen wußten, ist einem Gesichtsausdruck gewichen, mit dem man Leichen abholt und Kinder vergrault. Früher scharwenzelten Sie um die hübschesten Mädchen der ganzen Umgebung herum, jetzt tuscheln Sie alleweil mit dem alten Weibe im Keller, die zwar eine weise Frau und eine Landsmännin von Ihnen, aber doch kein Umgang für einen preußischen Gardefüsilier ist! Kurz und gut, Bogislaw Wrbala, hören Sie mein letztes Wort: Entweder Sie ändern sich, oder es geht gleich nach Pfingsten in die Kompagnie zurück — —”

„Abe — abe — — abe, Herr Leitnant!” stieß der Bursche hervor, wie einer, der plötzlich bis zur Herzgrube in kaltes Wasser gestellt wird.

„Da gibt es kein aber, mein Sohn, sondern es ist so, wie ich sage. Ich habe keine Lust, mir mein bißchen Humor und die schöne Welt da draußen durch so einen mießen Kerl verhunzen zu lassen. Am allerwenigtsen jetzt, wo — — — na überhaupt! Ich werde die Feiertage wie immer in Letschin verleben. Da es mir dunkel vorschwebt, als wenn Ihre Wandlung von der letzten dortigen Treibjagd her datiert, zu der ich Sie vor drei Monaten mitgenommen, werden Sie diesmal hierbleiben und somit Zeit haben — — au!! Zum Kuckuck! Bist Du verdreht geworden, Kerl?!”

Bogislaw Wrbala hatte die Hand seines Leutnants ergriffen und sie mit Inbrunst zwischen seine beiden Flossen gepreßt.

„Herr Leitnant! Ich bitt' schön! Wenn ich bitten dürft' — nehmen der Herr Leitnant mich mit! Ich werde auch immer lustig sein und vergnügt wie Ferkelschwänzchen! So warraftig der liebe Gott in Himmel is!”

Mehr noch als die selbstvergessene Beschwörung belustigten Herrn von Höxter die krampfhaften Bemühungen Bogislaws, den Worten gleich die Tat folgen zu lassen und seiner von Trübsinn verdunkelten Fassade einen mehr heiteren Anstrich zu geben. Er machte ganz kleine Augen und einen Mund so breit, als wenn er sich was ins Ohr sagen wollte. Das Bild eines Nußknackers, der auf einen Backenzahn mit bloßliegendem Nerv gebissen. Das war nun zwar nicht lustig, aber doch so komisch, daß der junge Offizier hell auflachte.

„Also schön. Dann kommen Sie meinetwegen mit. Im übrigen aber bleibt es bei dem, was ich gesagt habe. Bei dem ersten Flunsch gehen Sie wieder in den Frontdienst — und der Sergeant Süstow wird Sie schon munter kriegen. Ab!”

Bogislaw Wrbala schien sich noch in einigen Dankesworten ergehen zu wollen; aber da das mit breitem Munde mit Schwierigkeiten verknüpft ist, und ein abgewinkter Soldat nicht zu reden, sondern zu gehen hat, so ergriff er die Sachen vom Stuhl auf und zog ab.

Leutnant von Höxter dachte einen Augenblick darüber nach, was den drolligen Kerl so sehr für Letschin begeistern mochte. Dann aber nahm ihn Wichtigeres in Anspruch. Während vom Hofe her das Klopfen der Riemenpeitsche von Bogislaws energischer Reinigungstätigkeit Kunde gab, schaute der Offizier mit einem zuerst nachdenklichen, dann glückselig verträumten Ausdruck von seinem Schreibtische aus auf die Gärten der Nachbargrundstücke, wo der Lenz schon ganze Arbeit gemacht hatte. Welch ein festliches Blühen und Duften! Es war, als wenn die feurigen Zungen des Pfingstfestes auch über die Natur sich ausgegossen und ein jauchzendes Bekenntnis entfesselt hätten — bei jeder Blume in einer anderen Sprache. Das war wirklich zum Poetischwerden, auch wenn's einem sonst schwer fiel.

Jene Obstbaumgruppe drüben war fast genau so wie auf Letschin! Dieselben knorrigen, niederhängenden äste, in denen man Versteck spielen oder auch sich küssen konnte — — wie vor zwei Jahren der Degenfähnrich Ralf von Höxter und seine Cousine Isa von Streit —

Zwei Jahre! Und doch schien es ihm, als wäre es gestern gewesen, wie der alte Oekonomierat plötzlich vor ihnen gestanden, sein Töchterchen beim Zopf und den Degenfähnrich beim Ohrwaschel genommen und was von „infamigter Windhund” geknurrt hatte. Aber sie hatten die ihnen auferlegte zweijährige Prüfung bestanden — beide! Pfingsten sollte Isa heimkehren zur Verlobung. Just am Pfingstsonntag! Ralf Höxter war bei dieser Perspektive ums Herz, als wenn der Kalendermann in seiner übermütigen Laune alle Feste des Jahres auf diesen einen Tag zusammengelegt hätte.

Die Klopferei unten hatte aufgehört. Bogislaw Wrbala hockte vor einem der nach dem Hofe gehenden Kellerfenster und tuschelte so eifrig hinein, daß er seinen Herrn nicht bemerkte, der halb ärgerlich, halb belustigt aus dem Hochparterre auf ihn herabschaute.

„Das mit den drei Palmkatzen hab' ich mich nich getraut, Frau Mascheiken,” flüsterte Bogislaw eindringlich, „wie sollt ich ihm die wohl eingeben! Das hätt' er doch gemerkt, und denn hätt' er mir rausgeschmissen — und drei Tage hätt' ich vielleicht auch noch gekriegt.”

„Ja, 'ne Bangbüx darf man nicht sein, wenn man zaubern will,” erwiderte eine weibliche Stimme mißbilligend.”

„Aber trautste Frau Mascheiken,” warf der Bursche ein, indem er die Pranken flehend um den Stiel der Riemenpeitsche faltete, „ich möcht' ja auch eigentlich gar nich zaubern; ich möcht' bloß wissen, woran ich mit ihm bin. Ob er ihr liebt, und ob er ihr heiraten wird — was doch richtig gar nich möglich is. Sie is doch man bloß 'n einfaches Stubenmädchen! Aber weshalb fährt er immer nach Letschin? Da is doch nischt los für so'n Herrn. Abends wird Schafkopp gespielt, und das is alles. Ich hab's aber wohl gesehen, wie er ihr zweimal in die Backen gekniffen und „dicke Pussel” gesagt hat. Und sie hat Augen gemacht, wie — —”

„Zerbrechen Sie nich die Peitsch', Herr Wrbala,” ermahnte die weise Frau im weichen Tonfall des Mitgefühls. „Einen Riemen haben Sie ihr schon ausgerissen, Ich werd' Ihnen ein unfehlbares Mittel sagen, wie Sie alles erfahren. Haarklein — alles, was Sie wollen!”

„Achott ja, goldenste Frau Mascheiken! Aber ich hab' nich mehr wie fünf Dittchen*) —”

„Na denn geben Sie mir die andern fünf später. Sie sind mir sicher, Herr Wrbala. Also passen Sie auf: In der Pfingstnacht reden sogar Stein und Holz, wenn man sie richtig anspricht. Will man aber von einem Menschen was erfahren, so muß man ihn, wenn er schläft, nachts um zwölwen an die große Zehe fassen und dabei fragen — er sagt dann im Traum alles.”

„Je je — und wenn er aufwacht?”

„Das is doch nich nötig! Sie aollen ihm die Zehe auch nich abreißen! Im schlimmsten Fall muß man um eine Ausrede nicht verlegen sein. Aber wenn man sich so ungeschickt anstellt wie Sie, dann kann natürlich auch der stärkste Zauber nich wirken. Jedenfalls krieg ich noch fünf Dittchen von Ihnen —”

Damit schien die Angelegenheit für die weise Frau erledigt. Da sie sich trotz mehrmaligen, ebenso leisen wie dringlichen Anrufs nicht mehr äußerte, wandte sich der Bursche wieder an seine Arbeit und prügelte den ganzen Kummer seines Herzens in einen grauen Offiziersmantel. — — — — —

Bogislaw Wrbala hatte die Reise nach Letschin mit ganz kleinen Schlitzaugen und breitgezogenem Munde zurückgelegt — um mit dem Vergnügtsein in der Uebung zu bleiben. Seine Mitreisenden hatten ihn teilnahmsvoll gefragt, ob er in der jüngsten Zeit vielleicht einen Schlaganfall zu überstehen gehabt hätte, oder ob ihm sonst was wehtäte.

Er hatte nur mit dem Kopf geschüttelt und unentwegt weiter gegrinst, bis ihn auf Letschin wieder der Menschheit ganzer Jammer überkam. Oekonomierats Stine, deren ländliche Schönheit sein bißchen Kaschubenverstand bis zum Ueberschnappen verdrehte, hatte ihn zwar mit holdem Erröten, seinen Leutnant aber mit so schwärmerischen Plötzaugen begrüßt, daß es dem armen Bogislaw immer umschichtig heiß und kalt über den Rücken gelaufen war. Als überdies der Herr Leutnant vor seinen leibhaftigen Augen der Stine gleich mit beiden Händen in beide Backen kniff — da war der Entschluß gefaßt.

Bogislaw Wrbala fühlte wohl, daß es ein schreckliches Abenteuer war, in das er sich da stürzen wollte. Wenn der Herr Leutnant auch einen Schlaf hatte, daß man Holz auf ihm hacken konnte — das militärische Gefühl des Burschen bäumte sich wütend dagegen auf, einen Vorgesetzten meuchlings bei der großen Zehe zu fassen. In den Kriegsartikeln stand ja allerdings nichts, daß das Zaubern verboten sei — er hatte zu Hause extra nochmal nachgesehen —, aber die Geschichte hatte auch ohnedies ihre höchst bedenklichen Seiten. Und wahrscheinlich hätte Bogislaw die fünf baren und fünf schuldiggebliebenen Dittchen verspekuliert, ebenso wie das Honorar für die drei geweihten Palmkätzchen, die er seinem Leutnant einzugeben sich nicht getraut hatte, wenn ihm nicht eine Reihe glücklicher Umstände zu Hilfe gekommen wäre.

Zunächst dauerte der abendliche „Schafkopp” nur bis halb elf. Die alten Herrschaften gingen schlafen und der Herr Leutnant auch. Um drei viertel zwölf war schon alles still — nur in der Küche und den danebenliegenden Wirtschaftsräumen war noch Licht und Leben. Da wurde gebacken und gebraten, daß die herrlichsten Düfte bis zur Kammer hinaufstiegen, an deren offenem Fenster Bogislaw Wrbala mit gelindem Zähneklappern die Stunde der Gespenster abwartete. Die Pfingstnacht war lau und mild; aus den Fliederbüschen im Park lockte eine Nachtigall, und in dem wilden Wein am Hause zirpten die Heimchen. Aber was nützte das alles, wenn arge Zweifel das Menschenherz zerwühlen und die Schauer großer Ereignisse es erbeben machen. —

Im Hofe wurde es plötzlich lebendig. Der Bursche hörte Stimmen — dann ein Laufen und Türenschlagen, und an dem hellen Widerschein auf dem Hofe merkte er, daß die Gutsherrschaft geweckt worden war und Licht gemacht hatte. Nicht lange darauf huschte etwas über den Gang bis an seine Tür und klopfte.

„Booogiiiislaw!”

Stines säuselnde Zephirstimme. Ihm schlug das Herz bis in den Hals, und er mußte erst ein paarmal schlucken, ehe er antworten konnte. Das wurde aber nicht abgewartet,

Die Tür öffnete sich zu einer Ritze, und Stines rotes Patschhändchen warf ein Papier ins Zimmer.

„Wecken Sie sofort den Herrn Leutnant und geben Sie ihm das Telegramm. Der Herr Oekonomierat lassen den Herrn Leutnant bitten, zur Bahn zu fahren. Es wird schon angespannt.”

Als der Bursche mit Angstschweiß unter dem gesträubten Haar das Zimmer seines Leutnants betrat, schlug es zwölf von der Dorfkirche her. Ihm war gräulich zu Mute, obwohl doch alles so günstig lag wie nur möglich. Selbst die große Zehe ragte am Fußende des Feldbettes so einladend hervor, daß man nur zuzugreifen brauchte, um endlich zu wissen, wie es der Herr Leutnant mit der Stine hielt.

Und er griff zu — — — mit angstvoll aufgesperrten Augen und angehaltenem Atem.

„Lie — lieben Sie ihr, Herr Leitnant — —?” hauchte er mit zitternder Beschwörerstimme.

Erst einige seltsame Laute, als wenn sich jemand verschluckt hätte oder ein Lachen verkniff. Dann ein zwar verschlafenes, aber vollkommen deutliches:

„Jawohl —”

Bogislaw zuckte zusammen und sog einen Zug Luft durch die Zähne, wie einer, der sich unvermutet wehgetan.

„Und werden der Herr Leitnant ihr heiraten —?”

„Selbstredend werde ich heiraten.”

„Ihr —?”

„Ihr.”

„Denn häng ich mir uff!” stieß er zwischen Grimm und Jammer hervor.

„Häng Dir uff —” bestätigte die Stimme des Mediums, „dann ist ein Heuochse weniger auf der Welt.”

Wenn den Burschen der wache Ton dieser Offenbarung noch nicht bekehrt hatte, so besorgten das zwei andere, blitzschnell sich vollziehende Ereignisse. Die Zauberzehe entzog sich ihm, um dann plötzlich mit ihren vier Schwestern und dem nächsten Zubehör gegen Bogislaws Magengrube zu operieren. Fast gleichzeitig klatschte ein anscheinend bereit gehaltener Pantoffel auf sein Antlitz.

„Kerl!!” schnaubte Leutnant von Höxter mit einer Wut, die er brauchte, um seine Lachtränn zu verbergen. „Wie können Sie sich unterstehen —!”

„Ich sollte den Herrn Leitnant wecken,” stammelte Bogislaw entsetzt. „Es ist eine Depesche gekommen.”

„Und da zwicken Sie mich an der großen Zehe?! Na warten Sie, mein Sohn, darüber reden wir noch! Wo ist das Telegramm! Licht machen!”

Fünf Minuten später war der junge Offizier angekleidet und kutschierte durch die herrliche Sommernacht zum Bahnhof. Es waren beinahe zwei Stunden Wegs — und was er dabei dem völlig geknickten Burschen, den er wegen Isas Gepäck mitgenommen, über die menschliche Dummheit im allgemeinen und kaschubischen Aberglauben im besonderen erzählte, war wenig geeignet, die Stimmung des unglücklichen Zauberlehrlings aufzuheitern.

Erst auf der Heimfahrt — als der Herr Leutnant bei den ersten güldenen Strahlen der Pfingstsonne und unter dem jubelnden Konzert der Morgenvögel ein zierliches, feines Fräulein in den Armen hielt, und die beiden gar nicht von einander lassen wollten mit Herzen und Küssen, da dämmerte in Bogislaw Wrbala die frohe Erkentnis, daß er sich nicht aufzuhängen brauchte. Er machte kleine Augen und einen ganz breiten Mund — und diesmal war es wirklich ein Lachen.

— Ende —

*) Zehnpfennigstück (Zurück)

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